Über individuelle Perspektiven auf Probleme in Organisationen ist schon viel geschrieben worden: Heike muss sich einfach nur ein bisschen mehr anstrengen, Ursula blockiert sowieso immer alles und geht hoffentlich bald in Rente und das Operations-Team sollte dringend an einem Team-Building-Workshop teilnehmen, um verlorenes Vertrauen wiederherzustellen.
Doch in diesem Blogbeitrag möchte ich den Fokus verschieben und eine andere Perspektive anbieten. Eine Perspektive, die nicht die individuellen Mitarbeiter:innen für verpasste Termine, überzogene Kundenversprechen oder Konflikte zwischen Abteilungen verantwortlich macht. Es ist eine Perspektive, die stattdessen in den Strukturen und Prozessen der Organisation nach den Gründen sucht, warum sich Heike, Ursula, das Operations-Team und die anderen Mitarbeiter:innen deiner Organisation so verhalten, wie sie sich verhalten. Wenn es dir gelingt, einige dieser Gründe im Aufbau der Organisation zu identifizieren, hast du starke Hebel, um Veränderungen zu bewirken.
Über die Entstehung von Silos
Im klassischen Produktionsbetrieb des 20. Jahrhunderts waren die Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten noch sehr klar verteilt: Der Autobauer war dafür zuständig, Autos zu bauen, der Vertrieb konzentrierte sich darauf, Autos zu vertreiben und die Geschäftsführung kümmerte sich darum, die Geschäfte zu führen. Jede Abteilung fokussierte sich auf die ihr übertragende Aufgabe und wurde dadurch immer besser, komplexe Aufgaben innerhalb der Abteilung zu bearbeiten. Das war gleichzeitig die Geburtsstunde der Silos.
Doch wie sieht es heute aus? – Gerade bei der Entwicklung digitaler Produkte und Geschäftsmodelle ist eine abteilungsübergreifende – und damit auch siloübergreifende – Zusammenarbeit wichtiger denn je. Wenn das Business Development das letzte Mal vor Monaten mit dem Produktmanagement gesprochen hat, wenn das letzte Treffen zwischen Design und IT schon viele Wochen zurückliegt, wenn der Vertrieb nichts mit dem Material anfangen kann, welches das Marketing eigentlich zielgruppengerecht zusammengestellt hat und sich die Mitarbeiter:innen im Customer Support wundern, was zum Teufel die Kolleg:innen im Operations-Team eigentlich den ganzen Tag lang machen, dann ist Frustration vorprogrammiert und es herrscht schnell dicke Luft.
Entsprechend selbsterklärend sind die gebetsmühlenartig wiederholten Appelle des Managements, die hausinternen Silos wahlweise zu überwinden, abzubauen oder einzureißen. Doch trotz aller Aufrufe und gut gemeinter Initiativen zeigen die meisten Silos und die mit ihnen verbundenen Probleme eine erstaunliche Hartnäckigkeit.
Die Funktion von Silos – Eine organisationssoziologische Perspektive
Die Organisationssoziologie hat eine differenziertere Perspektive auf solche Silos. Während sie die häufig als negativ wahrgenommenen Folgen von Silos anerkennt, sucht sie gleichzeitig auch nach den Funktionen, die Silos für eine Organisation erfüllen. Kai Matthiesen, Judith Muster und Peter Laudenbach beschreiben in ihrem Buch „Die Humanisierung der Organisation“ wie das schönste Geräusch in einem Silo das der ins Schloss fallenden Tür ist, die das Durcheinander der übrigen Organisation draußen hält. Endlich ist die eigene Abteilung wieder unter sich und kann an ihren Zielen weiterarbeiten, ohne sich viele Gedanken über die Nachbarabteilung machen zu müssen.
Wenn die Tür des Silos ins Schloss fällt, ist das Produktmanagement froh darüber, nichts mehr von den verrückten und unbrauchbaren Ideen des Business Development Teams hören zu müssen. Dann ist die IT-Abteilung glücklich, keine unrealistischen Anfragen mehr von den Designer:innen zu erhalten. Dann bastelt das Marketing weiter an seinem Material, ohne das resignierte Kopfschütteln des Vertriebs mitzubekommen und dann ist das Operations-Team zufrieden, nichts mehr von nörgelnden Kunden und dem lästigen Customer Support zu hören. Silos sind eine große Erleichterung für Organisationen und machen diese erst produktiv und effizient.
Mit den Funktionen und Folgen formaler Organisation hat sich auch der Soziologe Niklas Luhmann intensiv beschäftigt. Er lebte von 1927 bis 1998 und war Professor an der Universität Bielefeld. Luhmann gilt als Begründer der Systemtheorie und hat auch den Funktionalismus entscheidend weiterentwickelt. Beide Ansätze können uns helfen, Organisationen im Allgemeinen und die Funktionen und Folgen von Silos im Besonderen besser zu verstehen – und zwar jenseits individueller Schuldzuweisungen.
Wie die Problemlösung „Arbeitsteilung“ zum Lösungsproblem „Silo“ wurde
Organisationen stehen immer wieder vor dem Problem, ein Produkt anzubieten oder ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln. Um diese Aufgabe besonders gut bewältigen zu können, so Luhmanns Erklärung, wird die Arbeit in kleinere Teile zerlegt und auf verschiedene Abteilungen verteilt. Diese Problemlösung der arbeitsteiligen Produktion von Gütern und Dienstleistungen findet sich in jeder modernen Organisation des 21. Jahrhunderts. Sie sorgt für klare Zuständigkeiten und ermöglicht effizientes Arbeiten.
Doch die Problemlösung „Arbeitsteilung“ führt auch zu neuen Problemen, die wir Lösungsprobleme nennen wollen. Silos sind ein gutes Beispiel für solche Lösungsprobleme, denn eine Abteilung entwickelt aufgrund der ihr übertragenen Teilaufgabe eigene Ziele, die nicht mehr deckungsgleich mit dem Gesamtziel der Organisation sind. Es ist eben nicht mehr das Ziel der Marketingabteilung, ein digitales Produkt zu entwickeln und zu verkaufen, sondern besonders gutes Marketingmaterial herzustellen. Es ist auch nicht mehr das Ziel des Customer Supports, ein neues Geschäftsmodell zu entwickeln, sondern den Berg an Kundenanfragen möglichst schnell und effektiv abzuarbeiten. Diese Teileziele können auf das Gesamtziel der Organisation einzahlen, müssen es aber nicht.
Da jede Abteilung aufgrund der ihr übertragenen Teilaufgaben eigene Ziele entwickelt, entsteht Reibung zwischen den jeweiligen Abteilungszielen, da diese nie vollständig miteinander kompatibel sind. Legt die IT-Abteilung besonderen Wert auf Datensicherheit, geht es den Designer:innen vor allem um Nutzerfreundlichkeit. Setzt der Vertrieb auf übertriebene Versprechungen von Produkt-Features, um die ehrgeizigen Umsatzziele zu erreichen, versucht der Customer Support die Enttäuschung der Kund:innen abzufedern. Die Abteilungen verfolgen unterschiedliche Ziele, die auf voneinander abweichenden Rationalitäten beruhen und konkurrieren gleichzeitig um knappe Ressourcen wie Zeit, Geld und die Gunst des Managements.
Was tun? – Drei Wege aus dem Silo-Dilemma
Wie lassen sich nun mit dem Wissen um Systemtheorie und Funktionalismus neue Problemlösungen für das Lösungsproblem Silo finden?
Erstens kann es schon eine unglaubliche Erleichterung sein, wenn man weiß, dass Emma aus dem Business Development Team nicht deshalb neue Prototypen baut, die dem Operations-Team später viel Arbeit machen, weil sie den Chef des Operations-Teams nicht mag, sondern weil sie vor allem den lokalen Rationalitäten und Zielen ihres Teams folgt. Der Designer Mark ist dann kein naiver Idiot, weil er von der IT-Abteilung schon wieder eine unverschämt teure Lizenz für das neueste Design-Programm verlangt, sondern er orientiert sich am Ziel des Design-Teams, eine besonders gute User Experience zu ermöglichen. All diese Konflikte können also entpersonalisiert und auf einer sachlichen Ebene – nämlich der Ebene der Strukturen, Prozesse und Kalküle der Organisation – bearbeitet werden.
Statt die Konflikte und Auseinandersetzungen, die bei der abteilungsübergreifenden Entwicklung neuer digitaler Produkte und Geschäftsmodelle zwangsläufig entstehen, zwischen den Abteilungen und in den Büroküchen schwelen zu lassen, empfiehlt es sich zweitens, gezielt Arenen zu schaffen, in denen diese Konflikte ausgetragen werden können.
Das kann ein regelmäßiges Treffen zwischen dem Design-Manager und dem Head of IT sein, in dem um den Kauf neuer Softwarelizenzen gerungen wird, die nicht im ersten Monat das gesamte Jahresbudget aufbrauchen. Das kann im Rahmen des Onboardings ein obligatorischer zweiwöchiger Aufenthalt im Customer Support sein, um wirklich zu verstehen, dass der Kunde König ist. Das können cross-funktionale Projektteams sein, damit die Expertise des Operations Teams schon in einer frühen Phase des Business Developments mitgedacht wird.
In jedem Fall sollten diese Treffen in dem gemeinsamen Verständnis stattfinden, dass Konflikte in den allermeisten Fällen nicht durch das individuelle Verhalten einzelner Mitarbeiter:innen entstehen, sondern häufig schon in den Verhältnissen der Organisation angelegt sind.
Schließlich bleibt drittens noch die resignierende Erkenntnis, dass es zwar viele gute Problemlösungen für das Lösungsproblem „Silo“ gibt, diese aber mittelfristig auch wieder zu neuen Lösungsproblemen führen werden. Es gibt keine Problemlösung, die nicht wieder zu neuen Lösungsproblemen führt. Die Herausforderung besteht darin, bereits bei der Konzeption der Problemlösung mögliche resultierende Lösungsprobleme zu antizipieren. Am Ende darf man sich dann für die Problemlösung entscheiden, mit deren Lösungsproblemen man am ehesten bereit ist, weiter zu leben.
Warum es hierbei auch auf deine Perspektive ankommt
Basierend auf dem hier vorgestellten Ansatz und einigen weiteren spannenden soziologischen Theorien promoviere ich an der Universität Potsdam zum Thema Digitalisierung und Organisation. Für meine Forschung bin ich derzeit auf der Suche nach Personen, die an einem etwa einstündigen Forschungsinterview teilnehmen möchten.
Im Gegenzug bin ich gerne bereit, die Forschungsergebnisse praxisnah aufzubereiten und konkrete Handlungsempfehlungen zu formulieren. So hast du die Chance, forschungsbasierte Einblicke in die Dynamik deiner Organisation zu erhalten, um blinde Flecken zu identifizieren und die internen Abstimmungs-, Arbeits- und Entscheidungsprozesse in deiner Organisation weiter zu optimieren.
Autor & Kontakt
Dieser Text stammt von Christoph Jaschek. Er arbeitet für die Organisationsberatung Metaplan und promoviert am Lehrstuhl für Organisations- und Verwaltungssoziologie an der Universität Potsdam. Zuvor studierte er Kulturwirtschaft und systemisches Denken in Deutschland, Argentinien und Großbritannien und arbeitete für die Kinderrechtsorganisation Plan International.
Du möchtest an den Interviews teilnehmen oder hast noch offene Fragen? – Dann melde dich einfach per E-Mail bei Christoph Jaschek unter christoph.jaschek@uni-potsdam.de.

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